Das achte Loch

Ich besitze eine Hose, aber unsere Beziehung ist kompliziert. Seit jeher verweigere ich ihr jene Körperform, die sie benötigt, um ihrer Aufgabe als passgenau sitzendem Kleidungsstück nachkommen zu können, und sie weigert sich, diesem Umstand durch ein erhöhtes Maß an Aufwand und Anstrengung ihrerseits Rechnung zu tragen. Ein Mensch mit geringerer literarischer Ambition würde einfach schreiben: Diese Hose rutscht. Aber so einer bin ich nicht. Was ich jedoch bin, ist einer, der sich Gedanken macht. Auch über das schwierige Leben mit einer widerspenstigen Textilie.

Ich habe meiner Hose einen Gürtel gegönnt. Zugegeben: Diesen Gürtel habe ich nicht etwa selbst gekauft, nein, meine Schwiegermutter – eine Frau, deren Einfühlungsvermögen nicht hoch genug geschätzt werden kann – schenkte ihn mir zu Weihnachten. Es ist ein guter Gürtel, ein hochwertiges Ledererzeugnis in dessen Auswahl – so gut kenne ich meine Schwiegermutter – ein Höchstmaß an Sorgfalt und Besonnenheit geflossen ist. In diesen wunderbaren Gürtel hatte ein guter Geist vorausschauend sieben Löcher gestanzt, und als ich ihn erstmals in die Schlaufen meiner renitent rutschenden Hose fädelte redete ich ihr gut zu: „Sieben Löcher! Bist du jetzt zufrieden?“ Sie war es nicht und rutschte fröhlich weiter.

Ein Freund, dem ich mein Hosenleid klagte, gab mir einen Tipp. Ich möge mich zu einem Schuster verfügen, so flüsterte er mir zu. Sobald es darum gehe, die Zahl der Löcher in einem Gürtel zu erhöhen, seien Schuster wahre Genies. Dankbar nahm ich diesen Rat an und betrat alsbald die heiligen Hallen der Schuhmanufaktur Hasenöhrl, nur zwei Straßen weiter. Als ich die Tür des Lädchens öffnete ertönte ein munteres Glöckchen, Meister Hasenöhrl selbst blickte von einem Kreuzworträtsel auf und musterte mich über den Rand seiner Brille. Mich, den Eindringling in seine heile und seit der Erfindung von Deichmann und Reno ungestörte Welt. Mich, den Überbringer des Gürtels mit den sieben Löchern.

Lange und eindringlich musterte Hasenöhrl meinen Gürtel, murmelte etwas von sehr gutem Leder und von einer wunderbaren Vernähtheit, ehe er mit sicherem Griff eine Zaubermaschine hinter dem Tresen hervorholte und meinem Gürtel – Zack! Bääm! – ein weiteres, ein achtes Loch verpasste. Ehrfürchtig flüsterte ich: „Was bin ich schuldig?“, und Hasenöhrl antwortete: „Geben Sie, was Sie gerne geben.“

Die gesamte Magie des Moments zerbarst in diesem einen Augenblick und eine beschämte Hitze schoss mir in die Wangen. Was ich gerne gebe? Was sollte das bedeuten? Woher sollte ich wissen, ob das, was ich „gerne gebe“ überhaupt angemessen ist? Oder – und das wäre ebenso fatal – ob es nicht maßlos übertrieben wäre! Warum konnte Hasenöhrl nicht einfach seinen Preis nennen? Was wusste ich denn schon über Lochpreise? Hätte ich zuvor geahnt in welch schwierige Situation mich Hasenöhrl mit dieser völlig absurden Forderung bringen würde, ich hätte mich schlau gemacht. Hätte einschlägige Webseiten konsultiert oder den Aktienindex an der Löcherbörse eingesehen. Aber so? Überwältigt von einer peinlich berührten Verdatterung riss ich Meister Hasenöhrl meinen Gürtel aus den arthritischen Fingern und stürzte grußlos bei der Tür hinaus. Noch lange hallte das anklagende Klingeln des Eingangsglöckchens in meinen Ohren.

Zuhause angekommen berichtete ich meiner Frau davon, was mir eben zugestoßen war. Es war eine gute Geschichte, aber als ich fertig war, sagte sie erstmal gar nichts. Nun verfügt meine Frau über die Fähigkeit die Augenbraue auf eine Art zu heben, die mir dabei hilft zu erkennen, wer in einer Geschichte – und sei sie noch so gut – tatsächlich der Trottel ist. Ich begriff die Tragweite des Unrechts, das ich dem armen, dem guten Meister Hasenöhrl zugefügt hatte. Eilig zog ich mich in mein Zimmer zurück. Ich hatte Arbeit zu erledigen.

In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich musste herausfinden was der angemessene Preis für ein Loch war, das ein Schuster – ein Meister seines Faches wohlgemerkt – in einen Ledergürtel stanzt. Das Internet geizte mit konkreten Informationen, und so musste ich vielerlei Annahmen treffen. Was verdient ein Schuster, wie viele Schuhe repariert er? Pro Monat? Pro Jahr? Was essen die Kinder eines Schusters, was die Enkelkinder? Was wendet ein Meisterschuster für Strom und Miete auf? Und am allerwichtigsten: Wie hoch sind die Anschaffungskosten für jene fantastische Locherzeugungsmaschine, mit der Hasenöhrl das Wunder des achten Lochs vollbracht hatte? Ich rief bei Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung an, ich schrieb dem Bezirksvorsteher eine Mail, den Innungsmeister der Wiener Schuhmacher klingelte ich um drei Uhr nachts aus dem Bett. Ich ging sogar soweit, mir die ostdeutsche Verfilmung des Märchens „Die Heinzelmännchen“ aus dem Jahr 1976 herunterzuladen, und erhielt so tiefgehende Einblicke in das tägliche Schusterleben. Als die Sonne durch das Fenster meines Zimmers blinzelte lagen alle Zahlen klar auf dem Tisch.

Für Kaffee war keine Zeit mehr. Ohne mich zu waschen oder zu rasieren stürmte ich aus der Wohnung, legte die Strecke zur Werkstatt des Meister Hasenöhrl in Rekordgeschwindigkeit zurück. „Es tut mir so leid“, schnaufte ich beim Betreten des Ladens und zückte einen Hundert-Euro-Schein, den ich dem verdutzten Hasenöhrl in die Hemdtasche stopfte. Zum Abschied verbeugte ich mich: „Wird nicht mehr vorkommen! Ich empfehle ihre Löcher weiter!“, und schon war ich dahin. Diesmal klang das Glöckchen viel süßer.

Eine Stunde später: Meine Hose rutscht. Ich werde bei Deichmann vorbeischauen müssen. Die Löcher dort sind zwar ein Klumpert, aber den Hasenöhrl kann ich mir wirklich nicht jeden Tag leisten.

(pad)

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