Merry Ostbahngeleitstrasse

„Zwickel, ich beneide dich!“, hub der Chef jovial an, als er mich morgens gegen 13 Uhr in seine düstere Kombüse im 11. Stock der Chefetage des Redaktionsgebäudes bat.

„Chef, bevor Sie was sagen…“, entgegnete ich, die noch düsteren Vorahnungen in meinem knarzenden, punschvernebelten Untergehörgebälk wälzend.

Dann sein alljährlich um diese Zeit abgespultes Gesülze:

„Papperlapapp, nix da, du weißt: Der Ostbahnbegleitstraßendienst über die Feiertage ist ein Privileg und wird nur verdienten Mitarbeitern zugestanden. Du bist mein bester Mann.“ Sein rechter Zeigefinger beschreibt ausladende Kreise um die Reste seines schuppendurchwirkten, öligen Haupthaares, das wir unter uns Mitarbeitern nur „Restfettn“ nennen.

Ich grinse linde ob dieser unglaubwürdig vorgetragenen Behauptung, die jeder andere Mitarbeiter, ob männlich oder weiblich, fast stündlich zu Gehör bekommt. Hier ist jeder „sein bester Mitarbeiter“, und das ist er immer schon gewesen.

Kurze Zäsur, verbunden mit einer defensiven Körperhaltung, dann das Totschlagargument, während ich mir den Anblick  eines  Gesichts mit flehenden  Aquarellaugen und  bekümmert herabhängenden Schlappohren gefallen lassen muss. Sein Mund – ein mit Tusche gefülltes O:

„Und außerdem habe ich niemand anderen“, haucht er, tief in sich zusammengesunken, mit der Impertinenz und Gefühllosigkeit eines in seiner Opferrolle gefangenen. Mich umgibt ein dezent weihnachtliches Odeur, irgendeine schier virtuos ausbalancierte Mischung aus Eierlikör, Corned Beef und Lebkuchen, die der Chefredakteur vermutlich als saisonales Rasierwasser aufgetragen hat, um damit die Damen von der Society-Redaktion zu beeindrucken. Was kann man auf dies heimtückisch‘ Gewort noch entgegnen? Er gibt mir nur das Gefühl, einwilligen zu müssen, es ist längst beschlossene Sache. Ich muss noch ein Stamperl Eierlikör zur Feier des gemeinsamen, für ihn so hart errungenen Kompromisses in einem unbeobachteten Moment in einen seiner Kakteen leeren, dann bin ich entlassen.

Ich hatte es schon kommen sehen: Der Zwickel würde also über Weihnachten als Blitzreporter Dienst in der Außenstelle Donaustadt tun, inklusive Dauerrufbereitschaft um pauschal  € 3,32 die Stunde, einer von der Firma gestellten und großzügig gefüllten Kühltruhe mit Fertiggerichten, Clever-Instant-Cappuccino und dem seelenlosen Hund der Nachbarin Wrybal, der mir tagtäglich seine Notdurft auf dem Fußabtrittsrost zum Geschenke macht.

Die Außenstelle Donaustadt ist grundsätzlich ja ein ganz romantisches Plätzchen. Mitten im nirgendwo  – Ostbahnbegleitstraße Nummer Merkichmirnie – steht sie, diese letzte Wiener Bastion des Hernalser Morgenpostillons: Ein rustikales, charmantes Gartenhäuslein im englischen Landhausstil (euphemistisch für: abgefuckter Bretterverhau mit Wellblechdach, elektrischem Heizstrahler, der, seinem anti-autoritär geschulten Wesen entsprechend, nicht immer einwandfrei strahlt,  und einem Donnerbalken im weitläufigen, 100m² großen Obstbaumgarten, auf dem man bei winterlichen Temperaturen in Ermangelung eines zusätzlichen Heizstrahlers braune Eiszapfen scheisst). Und es könnte so schön sein: Ruhe und Einsamkeit, endlich Zeit für Reflexion, ein In-Sich-Gehen, ein vom Rest der zivilisierten Welt abgekoppeltes kontemplatives Erleben seiner eigenen Person als unteilbare Entität, die den Geist in Schwung bringt. Erfahrungsgemäß scheitert man am Ende dieser Schichten in Abgeschiedenheit wieder einmal an der gleichen fundamentalen Erkenntnis, sich mit diesen schüchtern formulierten Vorsätzen in den eigenen Sack gelogen zu haben. Denn ohne Saufen – und damit meine ich: RICHTIG Saufen, ist an diesem Elfenbeinturm aus Holz für Arme kein Staat zu machen.

Ich sehe dieses urban-ländliche Stillleben ganz plastisch und lebhaft vor mir, und die damit verbundenen, in absolute Tristesse und Hoffnungslosigkeit eingehüllten Bilder ähneln wohl den Erlebnissen deutscher Soldaten zur Weihnacht 1942 in Stalingrad: Tief eingehüllt in meinem mir vom Großvater vermachten, und viel zu weiten wattierten Schurwollmantel in Feldgrau, hocke ich am Heilig-Abend-Dienst am Schemel inmitten einer von fahlem Kerzenlicht durchdrungenen Stube. Ein langer Wollschal schlingt sich um meinen kratzigen, von Bartstoppeln gezeichneten Hals, während mir der Atem vor dem Mund gefriert. Drei, vier, fünf, sechs, unzählige Rum mit Tee bringen Linderung in dieser selbst oktroyierten Alleinsamkeit im hölzernen Unterstand meiner unerfüllten Erinnerungen und traurigen Zukunftserwartungen. Ein wohlig warmes Gefühl von unbedingtem Selbstmitleid durchströmt die Mitte meines Körpers und trifft sich unter dem Zwerchfell mit jener des Rums. Eine Maus scharrt im Gebälk, oder ist es der fette Weihnachtsmann, der durchs Ofenrohr meines nicht existenten Ofens rauscht? Draußen, irgendwo ganz weit weg, wird Weihnacht gefeiert. Ich sitze vor dem alten Bakelit-Telefon, warte auf einen Bereitschaftseinsatz und siedendheiß fällt mir ein: In spätestens zwei Stunden ist der Rum aus, dann muss ich wohl oder übel an den Gin. Ich starre noch einmal aus dem beschlagenen Fenster, gegen das lieblich, als hätten sie gewusst, dass Heilig Abend ist, erste Schneeflöcklein tänzeln. Am Ende der Straße, weitab in der Ferne, meine ich, da steht ein frierend‘ Mädel im Kopftuch, in der Hand ein Schwefelhölzchen, vom Himmel blasen Engelsposaunen…

Als ich am nächsten Tag erwache, ist das Haus von Frau Wrybal bis auf die Grundholzpfähle abgebrannt. Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen, so erfahre ich einige Zeit später, war die seit langem gesuchte Brandstifterin, auf die mich der Chefredakteur angesetzt hat. Tja, und die Posaunen … angeblich ein Markushorn der Feuerwehr, oder so ähnlich. Sagt jedenfalls der Chefredakteur, als er mich zwei Stunden später besucht, um mir mit einer Flasche Eierlikör, einer Dose Corned Beef und einem Lebkuchenschneemann seine weihnachtliche Aufwartung zu machen. „Merry Ostbahngeleitstraße“, sage ich, und wir stoßen an. Die Brandstifterstory hat Kollegin Natalie derweil vom Home Office aus gemacht. Braves Mädel. Und der Chefredakteur beschütze uns alle – jeden von uns…

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